Ein Ende der Pandemie ist noch nicht absehbar, doch es gibt Anlass zur Hoffnung. Wie hat das erste Jahr mit dem Virus die ETH ver?ndert? Und was wird von der Krise bleiben?
Wie die ETH einst war, habe ich nur kurz miterlebt. Rund einen Monat nach meinem ersten Arbeitstag setzten die ersten Corona-Massnahmen des Bundesrats ein. Und ausgerechnet an jenem Tag im M?rz, an dem dieser die ?ausserordentliche Lage? ausrief, wurde ich 25 Jahre alt. Mit Freunden sass ich in einem Z¨¹rcher Park, die Stimmung war gedr¨¹ckt, die Situation nicht richtig fassbar. Das erste Jahr mit dem Virus ging gef¨¹hlt schnell vorbei: Die Interpunktion des Alltags fiel teilweise weg und liess die Zeit gleichf?rmiger dahinfliessen. Trotzdem hat diese Zeit uns wohl alle ver?ndert.
W?hrend viele beruflich oder privat unter einem erh?hten Druck stehen, hat die Krise auch kollektiv unz?hlige Fragen aufgeworfen. Eine davon ist, was wir am Ende mitnehmen. Die ETH Z¨¹rich hat in dieser Situation eine besondere Verantwortung. Als eine der f¨¹hrenden Hochschulen tr?gt sie mit ihrer Forschung zur Bew?ltigung der Krise bei, muss aber auch mit Blick auf Tausende von Mitarbeitenden und Studierenden aus der Krise lernen und innovative L?sungen f¨¹r die Arbeit und die Lehre der Zukunft finden. Was die ?ffentlichkeit in der Krise von der ETH am st?rksten wahrnimmt, ist ihre Forschung. ETH-Angeh?rige berechnen den ber¨¹chtigten R-Wert, ermitteln die Belegung der Intensivbetten, die Konjunkturstimmung oder die Mobilit?t der Bev?lkerung. Sie helfen mit, Orientierung in diese ungewisse Situation zu bringen. Wie aber hat umgekehrt die Krise die Forschung an der ETH ver?ndert?
Solidarit?t und Innovation in der Forschung
In den Medien nehmen Forschungsprojekte zur Pandemie viel Raum ein. Spiegelt das ein tats?chliches Ungleichgewicht wider? Obwohl Corona-Themen den ?ffentlichen Diskurs dominieren, k?nne er das f¨¹r den Forschungsbetrieb an der ETH verneinen, sagt Detlef G¨¹nther, Vizepr?sident Forschung der ETH: ?Ich war zu jedem Zeitpunkt mit der ganzen Breite unserer Grundlagenforschung konfrontiert. Das wird sich auch langfristig nicht ?ndern.? Als Beispiele nennt er etwa Data Science, Ern?hrung, Medizin oder Energie, die weiterhin Schwerpunkte sein w¨¹rden. Auch bei der Vergabe von F?rdergeldern im letzten Jahr finden sich Projekte aus vielf?ltigen Bereichen. ?Nichtsdestotrotz wird die Forschung rund um Krankheitserreger k¨¹nftig mehr Gewicht haben?, ist G¨¹nther ¨¹berzeugt.
?Die Krise hat einen Diskurs zwischen allen Disziplinen gef?rdert und innovative Zusammenarbeiten hervorgebracht.?Detlef G¨¹nther, Vizepr?sident Forschung der ETH
Ohnehin besteht traditionell eine starke Verbindung zwischen Naturwissenschaften und Medizin: Rund ein Drittel der ETH-Forschenden besch?ftigten sich schon vor der Pandemie direkt oder indirekt mit medizinischen Fragen.
Zentral f¨¹r Detlef G¨¹nther ist, dass der Wert von Synergien noch st?rker hervorgetreten sei. Die Krise habe einen Diskurs zwischen allen Disziplinen gef?rdert und innovative Zusammenarbeiten hervorgebracht. Die Forschungsprojekte wurden oft in einem hohen Tempo lanciert. Ein Beispiel ist die ?CoV-ETH?-Studie, die sich mit dem Immunverlauf von COVID-19-Infektionen befasst. Geleitet wird sie von drei ETH-Forschenden, die drei verschiedenen Ó¢»ÊÓéÀÖn angeh?ren. Die Zusammenarbeit entstand aufgrund der besonderen Situation, best?tigt Co-Leiterin Susanne Ulbrich: ?Wir kannten uns vorher nicht und wollten gemeinsam zum Wissensgewinn ¨¹ber die Verbreitung und das Verhalten des Virus in der ETH-Community beitragen.? Dass die Studie, an der bis jetzt rund 2900 Probandinnen und Probanden teilnehmen, bereits eineinhalb Monate nach Beginn des ersten Lockdowns starten konnte, sei auch einer grossen Solidarit?t zu verdanken: ?ETH-Angeh?rige aus allen m?glichen Bereichen haben uns mit Rat und Tat grossz¨¹gig unterst¨¹tzt. Das zu erleben, war extrem bereichernd.?
Diese Offenheit gelte es auch f¨¹r die Zeit nach Corona mitzunehmen, betont Detlef G¨¹nther: ?Unkonventionelle, interdisziplin?re Forschungsinitiativen sind wichtiger denn je, um die grossen Probleme unserer Zeit anzugehen.? Hier k?nnte die nun noch st?rker etablierte digitale Kommunikation helfen. Denn so zerm¨¹rbend es auch sein kann, sich mit Mitarbeitenden nur noch am Bildschirm auszutauschen: Gerade f¨¹r die internationale Forschungskooperation sind Teams, Zoom & co. eine Chance. Ein weiterer Punkt, in dem G¨¹nther Potenzial sieht, ist der schnelle Austausch von Daten. ?Das Bewusstsein k?nnte gewachsen sein, dass man Grosses bewirken kann, wenn man gewonnene Daten zusammenfliessen l?sst?, sagt der Vizepr?sident.
Risiken und Chancen in der Lehre
Auf ein Ende der Pandemie hofft G¨¹nther ganz besonders f¨¹r die Studierenden: Zum Studium geh?rten Lerngruppen, informelle Treffen und auch Partys ¨C das lasse sich nicht digitalisieren. Weitere kritische Punkte sind das psychische Wohlbefinden und die Lern- und Arbeitssituation zuhause. Das zeigt sich in einer Studierendenumfrage, die die Abteilung Lehrentwicklung und -Technologie Mitte Dezember 2020 durchgef¨¹hrt hat. Weit ¨¹ber die H?lfte der befragten Studierenden bewertete ihre F?higkeit zur Konzentration sowie ihre Motivation schlechter als in einem normalen Semester und berichtete zudem, sich h?ufiger niedergeschlagen zu f¨¹hlen. Vor allem neu eintretende Studierende, im Bachelor wie im Master, f¨¹hlen sich sozial zu wenig integriert.
In der Befragung zeigt sich deutlich, dass die Studierenden jene Veranstaltungen bevorzugen, die Formen von Austausch bieten. Dazu geh?ren Breakout-Sessions, Umfragen oder die M?glichkeit, per Chat Fragen zu stellen. Die Massnahme, die bei den Befragten am meisten Anklang fand, war das Einschalten der Webcam, vor allem bei kleineren Veranstaltungen. ?Immerhin ein Teil des Zugeh?rigkeitsgef¨¹hls kann so gewahrt werden?, sagt ETH-Rektorin Sarah Springman. Die Gestaltung des digitalen Unterrichts soll auch f¨¹r die Dozierenden ein Lernprozess sein: ?Jede Lehrperson soll die Distanzlehre in ihrem pers?nlichen Stil gestalten und mit neuen Ans?tzen experimentieren, um sie so lebendig wie m?glich zu machen.?
?Eine zentrale Herausforderung bei der digitalen Lehre ist es, Interaktion herzustellen.?Sarah Springman, ETH-Rektorin
Die Corona-Krise k?nnte in der Hochschullehre langfristig auch positive Entwicklungen angestossen haben. K¨¹nftig k?nnte eine hybride Lehre, die sowohl auf Pr?senz- als auch auf digitalen Unterricht zur¨¹ckgreift und die jeweiligen Vorteile in sich vereint, Normalit?t sein. Auch die Studierenden stehen einer Teil-Digitalisierung des Unterrichts mehrheitlich positiv gegen¨¹ber. In der Befragung geben rund 80 Prozent der Teilnehmenden an, sich weiterhin mindestens einen Tag Fernunterricht pro Woche vorstellen zu k?nnen. Sarah Springman sieht weiteres Potenzial bei Joint-Studieng?ngen. So k?nnten Module virtuell angeboten werden, damit Studierende mehrerer Hochschulen gleichzeitig daran teilnehmen k?nnen.
Die Arbeitsumgebung der Zukunft
Auch f¨¹r die Mitarbeitenden der ETH haben sich durch die Krise Risiken und Chancen er?ffnet. F¨¹r viele ist die Homeoffice-Pflicht mit einer h?heren Belastung verbunden. Die Abteilung Human Resources unterst¨¹tzte Mitarbeitende und Vorgesetzte mit Coaching sowie Beratung. Auf die oft thematisierte mentale und physische Fitness reagierte die Schulleitung mit einer Serie von vier Townhalls. W?hrend die administrativ-technischen ETH-Mitarbeitenden von einer hohen Arbeitsplatzsicherheit profitieren, steht der akademische Mittelbau unter erh?htem Druck. Die Doktorierenden und Postdocs sind befristet angestellt und f¨¹r ihre wissenschaftliche Karriere darauf angewiesen, an andere Universit?ten wechseln zu k?nnen. Mit der schwierigen Wirtschaftslage und Reisebeschr?nkungen ist f¨¹r viele von Ihnen die Unsicherheit erh?ht und die Zukunft ungewisser geworden. Schon seit Beginn der Krise setzt das HR mit neuen Regelungen Leitplanken f¨¹r m?glichst flexible und individuelle L?sungen. In vielen F?llen wurden Vertr?ge verl?ngert.
Langfristig gesehen er?ffnet sich, beschleunigt durch die Krise, eine neue Sicht auf unsere Arbeit, sagt Lukas Vonesch, Leiter der Abteilung Personal: ?Wir haben erkannt, dass im Homeoffice nicht die Produktivit?t der kritische Punkt ist, sondern das Gemeinschaftsgef¨¹hl.? Das ver?ndere das F¨¹hrungsverst?ndnis: ?F¨¹hrungskr?fte werden vermehrt zu Erm?glichern und Erm?glicherinnen.? Um diesen Prozess zu begleiten, hat das HR bereits f¨¹r verschiedene Gruppen von F¨¹hrungskr?ften, Professorinnen und Professoren Webinare veranstaltet, die jeweils auf grosses Interesse stiessen. Vonesch kann sich gut vorstellen, dass auch der physische Arbeitsplatz eine neue Bedeutung erh?lt: ?Vielleicht nutzen wir diesen k¨¹nftig bewusster als eine Art Begegnungszone.?
Fest steht: Homeoffice wird auch in Zukunft f¨¹r viele zum Arbeitsalltag geh?ren. Damit ver?ndern sich auch die Anforderungen an die Arbeitsinfrastruktur. Der Bund hat den ETH-Bereich im Dezember beauftragt, diese Auswirkungen zu analysieren und Ver?nderungen in Richtung flexibler Arbeitsformen zu pr¨¹fen. Treibende Faktoren dahinter sind die Digitalisierung, ver?nderte Bed¨¹rfnisse der Arbeitnehmenden sowie die ?kologischen und ?konomischen Vorteile einer effizienteren Raumnutzung. Obwohl Corona nicht der eigentliche Grund f¨¹r diese Entwicklung ist, d¨¹rfte die Arbeitssituation im letzten Jahr sie stark beschleunigen und viele wertvolle Erkenntnisse f¨¹r die Umsetzung liefern.
Die Corona-Krise l?sst uns noch nicht los. Sie richtet global grossen Schaden an, hat aber vielerorts auch Chancen er?ffnet. Ob wir diese nutzen, liegt in der Verantwortung von uns allen. ?Wir haben die M?glichkeit, viel aus der Pandemie zu lernen. Aber nur, wenn jeder und jede bereit ist, das Gute wie das Schlechte gr¨¹ndlich zu reflektieren, bevor man weitermacht wie zuvor?, schliesst ETH-Vizepr?sident Detlef G¨¹nther.
Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe des ETH-?Magazins ?life?.